Rund 500 Stunden Unterricht sind ausgefallen – Und jetzt?
Prof. Dr. Rainer Dollase
Ob es 500 Stunden sind oder weniger, also „nur“ 50 oder 20 – das spielt keine Rolle: was ausgefallen ist, muss nachgeholt werden. Wer meint, nachholen sei unnötig, hält offenbar große Teile des schulischen Unterrichtes für überflüssig. Kann man meinen – nicht wahr?
Stellen Sie sich eine Medizinstudentin vor, die während des Studiums die Hälfte einer Lehrveranstaltung mit praktischen Übungen zur Onkologie aufgrund einer hartnäckigen Erkältung verpasst hat. Soll die spätere Ärztin nie gezwungen werden, dass Ausgefallene nachzuholen? Soll sie später wie im Witz sagen „Ach von Onkologie habe ich kaum Ahnung – da habe ich gefehlt!“ Nein – das ist im Medizinstudium nicht möglich. Nein – das ist auch nicht Praxis in der Ausbildung zum Maurer. Wer beim Thema „Verschalung“ fehlte, muss dieses Thema nachholen und vor allen Dingen praktisch nachüben, wenn die Fehlzeiten während der praktischen Ausbildung passierten. Nein – das ist in keinem Ausbildungsgang auf der ganzen Welt üblich, dass man den Unterrichtsstoff, der ausfiel, nicht nachholen müsste.
Zunächst aber muss man recherchieren, wie viel tatsächlich wo ausgefallen ist. Es kann ja durchaus sein, dass es hier regionale und lokale Unterschiede gibt – die Schulleitungen und die Lehrkräfte selbst müssen hier selbst entscheiden (klar – ein Graus für die viel zu vielen Administratoren im System, die sich nur auf Kontrolle und Aufsicht verstehen). Es kann ohne weiteres sein, dass man trotz Distanzlernen den Unterrichtsstoff vollständig bearbeiten konnte, weil die Schüler und Schülerinnen zu Hause genügend Unterstützung hatten bzw. der Distanzunterricht sehr wirksam war. Also können Lernende ihr Abitur, also können sie ihre Abschlussprüfungen zur selben Zeit wie früher absolvieren.
Allerdings – es mehren sich die Anzeichen (auch empirische Untersuchung zeigen in diese Richtung) das bestimmte Schülergruppen (seltener Schülerinnengruppen) auch im Distanzlernen Defizite anhäufen. Die Überlegungen, wie Ausgefallenes und nicht Gelerntes nachgeholt werden kann, sind also hochaktuell – egal wie wirksam der Distanzunterricht war. Je länger die Pandemie dauert, umso wichtiger wird das Nachholen von Unterricht. Und Bildungsgerechtigkeit qua Notenfindung spielt genauso eine entscheidende Rolle wie evidenzbasierte empirische Aussagen.
Im folgenden liste ich schlicht und einfach mal auf , was ich in Wissenschaft und Praxis, Praxisbeobachtung und – hospitation in der letzten Zeit so alles gehört und gelesen habe, wie man mit diesen erwartbaren Defiziten umgehen soll – von Kraus bis Meidinger, von Hubig über Köller bis Linnemann und vielen unnennbaren Personen stammen die Argumentationen.
Ich bleibe neutral, damit Leser und Leserinnen (oder m,w,d,LGBTQ 🙂 die Komplexität einer solchen angeblich einfachen Entscheidung auch wirklich nachvollziehen können. Es ist nervig, immer wieder nur Kritik an den gerade beschlossenen Corona – Maßnahmen zu hören, ohne konkrete und konstruktive Verbesserungsvorschläge. Kritik sollte eigentlich nur der-,die- und dasjenige üben, der/die/das es tatsächlich besser weiß. Und davon gibt es unter uns ohnehin niemanden. Bescheidenheit – ich werde nicht müde das immer wieder zu fordern – ist das wichtigste, was ein Demokrat im Leben braucht: der Meinungsgegner könnte auch recht haben. Es muss nicht „knallen“ und „hitzige, kontroverse Diskussionen“ von „Powerfrauen“ und „fetzigen Diskutanten“ sind für das Finden richtiger Lösungen eher kontraproduktive shows für Aggressivlinge (m,w,d, LGBTQ – egal). Bleibt ruhig – dann finden wir tolle Lösungen.
Zunächst lassen sich zwei grobe Kategorien von Argumenten unterscheiden:
1. Universal gültige Bildungsstandards. Die meisten gehen davon aus, dass Bildungsstandards universal gelten müssen und dass keine Änderungen an den Anforderungen für Abi oder Mittlere Reife oder Hauptschulabschluss erlaubt sind. Wenn diese Bildungsnormen,-kriterien etc. nicht erreicht werden – ob Unterricht ausgefallen ist oder nicht – sind Lernende defizitär. Also muss man nachholen, fördern oder sonst was.
2. Bildungsstandards als beliebig anpassbare Zielformulierung. Wenn junge Menschen an den Bildungsstandards scheitern – dann sind sie nicht defizitär, sondern die Standards sind falsch. Wenn es wegen der Pandemie nicht anders möglich war, dann müssen die Standards gesenkt – oder im Falle von beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen – geändert werden.
Mehr oder weniger lassen sich alle Argumente letztlich zu einer dieser Schubladen zuordnen.
Man kann nun innerhalb dieser beiden Gruppen jeweils mehrere Antwortgruppen auf die Frage unterscheiden, wie der ausgefallene Untericht nachgeholt bzw. anders definiert werden könnte.
1. Universal gültige Bildungsstandards.
Hierunter fallen drei Argumentationsgruppen.
Typus A: „Das ist alles nicht so schlimm – es muss nichts nachgeholt werden“ – Dieser Argumentationstypus leugnet die Notwendigkeit des Nachholens – selbständiges Lernen, Kompetenzförderung, informelles Lernen und beruflicher wie universitärer Alltag werden dafür sorgen, dass die Lücken sich schließen. Er glaubt weiterhin an die universal gültigen Standards, denkt aber, dass diese sich außerhalb von Schule durch Umwelt und Gesellschaft und Eigeninitiative erreichen lassen. Ein paar statements: „Wir brauchen gar nichts zu tun, das wird sich alles automatisch richten“- „Da brauchen wir nicht reagieren, was man in der Schule lernt, vergisst man sowieso alles“- „Die schulischen Inhalte sind eigentlich unwichtig, wichtiger sind die Kompetenzen der Schüler und die haben wir gefördert, da kann ruhig mal etwas ausfallen“ und „Die Intelligenz wird in der Schule ohnehin nicht gefördert.“ – „Es ist völlig egal, was man lernt- der Gewinn an Kompetenz ist wichtig“- „Die Pandemie verschlechtert weltweit die Schulausbildung- also hat dies keinen Einfluss auf die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit“.
Typus B: „Beim Übergang von G9 nach G8 haben wir auf 1260 Unterrichtsstunden verzichtet – und es hat alles geklappt.“
Na – „geklappt“ ist euphemistischer Kabarettismus – über 80% der Eltern wollten in NRW die Rückkehr zu G9, weil sie gemerkt haben, das alles mehr oder weniger falsch läuft: Stress, ungerechte Benachteiligung bestimmter Schichten, Studien- und Berufsfindung, Verlängerung des Studiums. Politik hampelte bei der damaligen Entscheidung wie so oft als Marionette ökonomistischer und neunmalkluger Experten in den Supergau. Dadurch haben sie die Akzeptanz für G8 im großen Stil im Volke verloren. Wer damals für 1260 ausgefallene Unterrichtstunden gestimmt hat, den werden weitere 500 Stunden Pandemie-Ausfall auch nicht aus der Bahn werfen. Noch 2017 wurde in NRW der Re-Start ins G9 auf viele Jahre verschoben. Dieser Typus hält also große Teile des Unterrichtsstoffes für überflüssig oder billig kompensierbar, z.B. durch stramme selbständige Lernhaltung. Er hält aber eisern an den Bildungsstandards fest.
Typus C: „ Flexible Schulzeitverlängerung“ Kern dieser Argumente: wenn Unterrichtszeit ausgefallen ist, muss Unterricht nachgeholt werden. Die Bildungsstandards gelten und sind wichtig – deshalb muss durch Schulzeitverlängerung nachgeholt werden, was verpasst wurde. Wenn 500 Stunden ausgefallen sein sollten, dann müssen wir 500 Stunden länger (freiwillig) unterrichten – aus G8 wird G9, aus vier Jahren Grundschule werden fünf Jahre (4 plus 1 = schon empirisch positiv evaluiert), aus 6 Jahren HS oder RS werden 6+1 usw. Diese Grundidee kann man beliebig flexibilisieren – das Ausgefallene kann durch Distanzunterricht nachgeholt werden, wir können Repetitorien (ähnlich wie an der Uni in Jura) einführen, also Zusatzveranstaltungen, wir können die Prüfungstermine von den Schulbesuchsterminen entkoppeln (die Unis können die Organisation einer solchen Regelung als Beispiel vorgeben), eine „Freischuss“ Regelung erlauben – wir können den Unterricht auch samstags und in den Ferien einführen. Was zu massiven Protesten führen wird (seit der Aktionsrat Bildung nachgewiesen hat, dass im Vergleich der meisten Berufe die Lehrberufe den meisten Stress haben, auch mehr als Alten- und Krankenpflegeberufe, sollte man es sich verbieten, das Kanzler Schroeder’sche Stammtisch Gelabere von den „faulen Säcken“ auch nur ansatzweise hinterher zu denken).
2. Bildungsstandards als beliebig anpassbare Zielformulierung.
Ein Argumentationstypus mit Hintersinn: Wer sagt, man muss etwas nachholen, geht ja davon aus, dass es eine ewige und heilige Menge von Inhalten gäbe, die man unbedingt beherrschen müsste. Dabei sind alle Standards (Kriterien, Leistungsanforderungen etc.) billiges Menschenwerk, bloßer Konsens von allerlei Verbänden und Parteien. Können wir also die Erfolgskriterien und Standards von zu erreichenden Lernzielen nicht so ändern, dass Defizite nicht entstehen? Also den Schaden der Unterrichtsausfälle einfach wegdefinieren?
Warum ist das Argument hintersinnig? Erfolgskriterien so definieren bzw. ändern, dass jeder Erfolg hat. Nicht schlecht. Mit dem Sprengstoff einer Revolution des kleinbürgerlichen Bildungsbegriffs und seiner -standards und der Chance, ein Bildungssystem wieder zu differenzieren.
Typus D: „Unterrichtsstunden nicht nachholen – sondern den Stoff von Überflüssigem befreien.“ In den allgemeinbildenden Schulen werden ja derartig viele überflüssige, nebensächliche und unwichtige und nicht systemrelevante Inhalte transportiert und aufgrund der Leistung darin Selektionen durchgeführt, dass man zunächst einmal daran denken muss, diese Inhalte zu entschlacken. Wir müssen uns sofort auf das systemrelevante Wissen konzentrieren, also vermutlich auf die Hauptfächer oder Kernfächer. In der Tendenz ist das in einigen Bundesländern schon verordnet. Also: man holt in dieser Gruppe von Argumenten keinen Unterricht nach, sondern wir entschlacken den Stoff, konzentrieren uns auf das Wichtigste und darin machen wir auch Prüfung. Problem durch Senkung oder Prioritätensetzung der Ansprüche gelöst.
Typus E: „Wir lassen alles die Schulen selbst entscheiden“, d. h. die Schulleitung, die Schulkonferenz, die Lehrerkonferenz, die Fachkonferenz, die Lehrkräfte, die Abschlussklassen unterrichten – entscheiden, wie es weitergeht. Weil die Bildungsstandards alle spezifisch auf jede Klasse, jede Lehrkraft, jede Schülerpopulation angepasst werden müssen. Universale Vergleichbarkeit von Leistungen ist sowieso eine Illusion. Wir müssen dem Geschehen vor Ort maximal gerecht werden.
Nun, diese Aufzählung muss nicht vollständig sein- die Schubladen der Argumente können auch beliebig anders sein oder alle nochmals in Unterschubladen differenziert werden.
Restlos alle Argumente haben irgendwelche Nachteile – das kann sich jeder selber einfallen lassen. Aber wie Waldorf und Stadtler in der Muppet Show- oben auf den Rängen bequem zu sitzen und immer wieder alles besser wissen – ist eine Untugend, die man im Privaten gerne machen kann, aber die man schon bei einer nur journalistischen Aufbereitung für verantwortungslos halten muss. Wer kritisiert, sollte es besser machen können, sonst seine eigene Begrenztheit eingestehen oder den Mund halten. Was hiermit für den Autor dieser Zeilen selbstredend auch gilt.
Entscheidungshilfen aus der evidenzbasierten empirischen Forschung
Hilft uns die empirische Forschung bei der Beantwortung einer so schwierigen Frage – auf welche Art und Weise wir die ausgefallenen Stunden nachholen könnten? Antwort: nur bedingt. Ein paar Befunde:
Die Jahre der Schulzeit haben auch unabhängig vom durchlaufenen Curriculum einen positiven Effekt auf Intelligenz und Leistungsfähigkeit (Bergold u.a. 2017)
Die „echte“ Lernzeit, die „aktive Lernzeit“, die „time on task“ hängt mit der Leistung positiv zusammen (vgl. Hattie)
Ein massiertes Nachholen von Stoff (massed vs. spaced learning)- z.B. in Ferienkursen – ist nicht so wirksam, ebenso alle Ferienkurse und aller Distanzunterricht sowie webbasiertes Lernen (vgl. Hattie)
In einem normalen Unterricht geht rund ein Drittel der Zeit für Disziplinlosigkeit, Unaufmerksamkeit und Leerlauf an Lernzeit verloren – in manchen Stunden und bei manchen Lehrkräften auch mehr.
Gibt es eine gerechte Notenfindung im Distanzunterricht?
Wer einigermaßen clever ist, kann bei allen Aufgaben im Distanzunterricht pfuschen, dass sich die Balken biegen. D.h. im Distanzunterricht können keine gerechten Noten gewonnen werden – deshalb muss ausgefallener Unterricht und zum Teil auch Distanzunterricht im Argumentationstypus „flexible Schulzeitverlängerung“ nachgeholt werden.
Man weiß beim Distanzlernen nicht, ob Oma die Schularbeiten gemacht hat oder Opa, Vater oder Mutter, oder gar ein Netzwerk von Freunden und Freundinnen, die dann auch dem Letzten helfen, die Schulabschlüsse – sagen wir es ruhig deutlich – zu ergaunern.
Man kann außerdem alles im Netz nachsehen und recherchieren und kann ohne eine eigene Fähigkeit für irgendwas zu haben, die kompliziertesten Inhalte nachmodellieren. Die vielen partiell gefälschten Dissertation des letzten Jahrzehnts haben gezeigt, wie man mit „copy and paste“ einen intelligenten Eindruck machen kann. Insofern hat eine ideosynkratische Testung (Argumentationstypus E) einen Vorteil für die Gerechtigkeit.
Zur Feststellung der wirklichen Leistungsfähigkeit eines jungen Menschen muss er ohne Hilfsmittel, alleine und ohne weitere Hilfe von anderen mit einer Reihe von Aufgaben konfrontiert werden (uno actu Situation), die zeigen, dass er in der Lage ist, alleine eine intellektuelle Leistung – ohne die Hilfe von gigantischen Bibliotheken des Wissens im Netz, in denen auch jede mögliche kritische Überlegung steht- abzuliefern. Die Frage, wie wir 500 ausgefallene Stunden nachholen, hat also unbedingt etwas damit zu tun, wie unterrichtet wird und wie Leistungsnoten ermittelt werden.
Wofür ist der Verfasser dieser Zeilen? – Mit der nötigen Skepsis gegen eigene Ideen – für eine „flexible Schulzeitverlängerung“. Wohl wissend, das liebe Kollegen schon mal dazu sagen „eine absurde Idee“. Na – sicher?
2/2021 Rainer Dollase…